Inklusion im Technikunterricht

Veröffentlicht am 15. Dezember 2022, Essen, NRW

Von der explorativen Studie zu praxisnahen Fallvignetten:
Lehrkräftehandeln im inklusiven Technikunterricht


Einleitung

Lehrkräfte stehen im inklusiven Technikunterricht vor besonderen Herausforderungen. Neben fachlichen und sicherheitstechnischen Anforderungen müssen die individuellen Bedürfnisse von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und auch weiterer marginalisierter Gruppen berücksichtigt werden. Die vorliegende explorative Feldforschung untersucht diese Herausforderungen anhand von praxisnahen Fallvignetten, die in Zusammenarbeit mit inklusiven Techniklehrkräften entwickelt wurden. Fallvignetten stellen eine Methode dar, mit der Unterrichtssituationen analysiert und reflektiert werden können. Dies sind kurze, realitätsnahe Beschreibungen von konkreten Unterrichtssituationen oder Problemstellungen. Sie können Lehrkräfte zur Reflexion ihres eigenen Handelns anregen und mögliche Lösungsstrategien aufzeigen (Kuckartz, 2014). Bilgin & Ötvös (2024) definieren marginalisierte Gruppen als Einzelpersonen oder Gemeinschaften, die aufgrund sozioökonomischer, kultureller oder bildungsbezogener Faktoren von Teilhabe ausgeschlossen sind. Einige Gruppen haben oft keinen Zugang zu Bildung, Ressourcen oder sozialen Netzwerken und können sich nicht beteiligen. Marginalisierung kann sich in unterschiedlichen Formen äußern, unter anderem soziale Ausgrenzung, wirtschaftliche Benachteiligung oder fehlende politische Repräsentation.

Die Fallvignetten bieten Lehrkräften praxisnahe Einblicke und dienen als Grundlage für Reflexion und Weiterbildung. Sie sind entwickelt worden, um die:

  • ■ Erfahrungen anderer Lehrkräfte nachzuvollziehen und mit der eigenen Praxis abzugleichen
  • ■ Die didaktischen und methodischen Lösungen für herausfordernde Unterrichtssituationen zu erarbeiten.
  • ■ Sicherheitsrelevante Aspekte bei der technischen Ausstattung und Nutzung von Maschinen zu identifizieren und zu reflektieren.
  • ■ Kooperationsmöglichkeiten mit Sonderpädagog:innen und anderen Fachpersonal zu erkennen und auszubauen.
  • ■ Eigenes professionelles Handeln zu reflektieren, weiterzuentwickeln und dabei Sicherheit zu geben.

Zugleich weisen die Fallvignetten Grenzen und Herausforderungen auf:

  • ■ Die Fallvignetten können nicht alle Bedürfnisse der Schüler:innen abdecken.
  • ■ In jeder Unterrichtssituation sind spezifische Lösungen erforderlich, insbesondere für Schüler:innen mit unvorhersehbaren Herausforderungen. Die Fallvignette von Felix mit Epilepsie zeigt die Notwendigkeit, Vorkehrungen für unvorhersehbare Anfälle zu treffen.
  • ■ Die Fallvignetten zeigen, dass viele Lehrkräfte aufgrund begrenzter zeitlicher und materieller Ressourcen individualisierte Anpassungen vornehmen müssen. Die Fallvignette von Moritz, der nur einen Daumen an seiner dominanten Hand hat, beschreibt die Notwendigkeit improvisierter Lösungen.
  • ■ Nicht alle Techniklehrkräfte haben Zugang zu inklusionsspezifischen Schulungen. Dies führt zu Unsicherheiten im Umgang mit Schüler:innen mit besonderen Bedürfnissen. Die Vignette von Sarah, die im Rollstuhl sitzt, zeigt, dass nicht alle Lehrkräfte auf die räumlichen und technischen Barrieren vorbereitet sind.
  • ■ Viele Lehrkräfte benötigen mehr Unterstützung, um sicher und kompetent inklusiven Unterricht zu gestalten. In der Vignette von Hanna, einer blinden Schülerin, wird dies besonders deutlich, da Lehrkräfte Strategien entwickeln müssen, um den Unterricht für sie taktil erfahrbar zu gestalten.


Zielgruppe

Zielgruppe sind Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I und II, die das Fach Technik unterrichten. Die Lehrkräfte können sich auf verschiedene Weisen für den Technikunterricht qualifizieren:

a. grundständiges Studium des Fachs Technik,
b. Qualifikationserweiterungen oder Zertifikatskurse,
c. temporäre Anstellung als Vertretungslehrkraft.



Ziele

Hauptziel: Die Fallvignetten dienen als Reflexionsinstrument für Lehrkräfte und sollen zur Weiterentwicklung inklusiver Lehrmethoden beitragen. Sie ermöglichen eine praxisorientierte Auseinandersetzung mit konkreten Unterrichtssituationen, die sowohl zur Sensibilisierung als auch zur Entwicklung von Handlungsstrategien beiträgt.

Z1: Anforderungen an die Gestaltung eines inklusiven Technikunterrichts und seiner Lehrmaterialien

Z2: Formen von sonderpädagogischem Förderbedarf und ihre spezifischen Bedürfnisse.

Z3: Mögliche (sicherheits-)technische Anpassungen sowie die Ausstattung des Technikraums

Z4: Inklusionsorientierte Arbeit im Technikunterricht und das berufliche Selbstkonzept von Lehrkräften.



Fragestellungen

Gestaltung eines inklusiven Technikunterrichts:

F1: Welche (methodischen oder didaktischen) Gestaltungsmöglichkeiten werden für einen inklusiven Technikunterricht aufgezeigt?

F2: Welche Grenzen, Einschränkungen und Herausforderungen bestehen im inklusiven Technikunterricht?

F3: Welche technischen Möglichkeiten können zur Sicherstellung der Teilhabe genutzt werden?


Formen sonderpädagogischen Förderbedarfs:

F4: Welche individuellen Bedürfnisse von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind im Technikunterricht zu berücksichtigen?

F5: Mit welchen Förderbedarfen hatten Lehrkräfte bereits Berührung und welche Handlungsstrategien haben sie entwickelt?


Sicherheit im Technikunterricht:

F6: Welche Maßnahmen sind erforderlich, um einen barrierefreien Technikunterricht zu gewährleisten?

F7: Welche technischen Lösungen können die sichere Teilnahme aller Schüler:innen ermöglichen?


Berufliches Selbstkonzept von Lehrkräften:

F8: Welche Erfahrungen haben Techniklehrkräfte mit Inklusion und sonderpädagogischer Förderung?

F9: Welche Unterstützung erhalten sie für den inklusiven Technikunterricht?

F10: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Sonderpädagog:innen?

F11: Welche Fortbildungen oder Sensibilisierungsmaßnahmen wurden besucht?

F11: Wie bewerten Lehrkräfte ihre eigene inklusionsorientierte Arbeitsweise?



Hypothesen

Aus den Interviews und Fallvignetten lassen sich folgende Hypothesen ableiten:

  • (H1) Lehrkräfte entwickeln durch Erfahrung und Reflexion spezifische Kompetenzen für inklusiven Technikunterricht.
  • (H2) Die Gestaltung inklusiver Unterrichtseinheiten erfordert methodisch-didaktische Anpassungen, die nicht immer ausreichend berücksichtigt werden.
  • (H3) Die Zusammenarbeit mit Sonderpädagog:innen und anderen Fachkräften ist entscheidend für die Umsetzung eines erfolgreichen inklusiven Technikunterrichts.
  • (H4) Es sind spezifische sicherheitstechnische Maßnahmen erforderlich, um allen Schüler:innen eine sichere Teilnahme zu ermöglichen.
  • (H5) Das berufliche Selbstkonzept von Lehrkräften beeinflusst deren Bereitschaft und Fähigkeit, inklusiv zu unterrichten.


Fallvignetten

Die nachfolgenden Fallvignetten stellen einige wichtige Sicherheitsaspekte dar, die bei der Arbeit mit speziellen Werkzeugen und Geräten im Technikunterricht zu berücksichtigen sind. Für ihr Handeln ist eine barrierefreie Lern- und Arbeitsumgebung notwendig. Bitte lesen Sie die Fallvignetten aufmerksam durch und diskutieren Sie gemeinsam mit einer weiteren Person oder Personengruppe die beschriebenen Herausforderungen. Die vorgestellten Fallvignetten wurden durch vorangehende explorative Feldstudien in Nordrhein-Westfalen herausgearbeitet. Die befragten Expert*innen (N=30) wurden mittels leitfadengestützter Experteninterviews zu ihren Herausforderungen und Lehrkräftehandeln im inklusiven Technikunterricht befragt.

[Fallvignetten]

Aufgabenstellungen zu den Fallvignetten
Die Fallvignetten ermöglichen die Formulierung folgender Aufgabenstellungen:

Analyse und Reflexion

  • ■ Wählen Sie eine Fallvignette aus und überprüfen Sie die darin enthaltenen Sicherheitsmaßnahmen.
  • ■ Welche weiteren Maßnahmen könnten erforderlich sein?
  • ■ Wie hätten Sie sich als Lehrkraft in den jeweiligen Situationen verhalten?
  • ■ Welche Herausforderungen hätten Sie wahrgenommen?
  • ■ Welche emotionalen und sozialen Aspekte sind in der gewählten Fallvignette relevant und wie kann die Lehrkraft diese berücksichtigen?

Methodische und didaktische Umsetzung

  • ■ Erstellen Sie eine Unterrichtseinheit, die den individuellen Anforderungen einer Schüler:in gerecht wird.
  • ■ Erstellen Sie ein Konzept für die Einführung einer bestimmten Maschine unter Berücksichtigung eines Förderbedarfs.
  • ■ Welche Methoden könnten angewandt werden, um das technische Verständnis aller Schüler:innen zu fördern?

Kooperation und Unterstützungsmöglichkeiten

  • ■ Welche Unterstützung können Peers leisten, um einen barrierefreien Technikunterricht zu ermöglichen? Entwickeln Sie eine kooperative Lernstrategie.
  • ■ Welche Möglichkeiten gibt es, die Zusammenarbeit zwischen Techniklehrkraft und Sonderpädagog:innen zu verbessern?

Sicherheit und Anpassungen an den Technikunterricht

  • ■ Entwickeln Sie ein Sicherheitskonzept für eine inklusive Werkstatt, das die Anforderungen einer beispielhaften Schülergruppe mit SPF berücksichtigt.


    Zukunftsperspektive

    Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die Bereitstellung von Fortbildungen und Ressourcen für Techniklehrkräfte notwendig ist, um die Inklusion im Fach Technik nachhaltig zu fördern. Zukünftige Forschung könnte sich verstärkt auf die Verbesserung technischer Hilfsmittel und didaktischer Konzepte für Schüler:innen mit unterschiedlichen Förderbedarfen konzentrieren. Die Entwicklung digitaler und interaktiver Lehrmaterialien könnte dazu beitragen, individuelle Lernprozesse zu unterstützen und gleichzeitig die Sicherheit im Technikunterricht zu gewährleisten. Durch den kontinuierlichen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis können inklusive Lehrkonzepte entwickelt und nachhaltig im schulischen Alltag verankert werden. Die Technikdidaktik hat die Aufgabe, Theorie und Praxis miteinander zu verzahnen.